Mit freundlicher Genehmigung übernommen vom Der Standard Blog: Klima in Bewegung. Ein Beitrag von Manuel Grebenjak, 16. Mai 2023.

“Das Streben nach Wachstum um jeden Preis hat ein globales Wirtschaftssystem geschaffen, das fragil und anfällig für Schocks ist, und das muss sich ändern.” Das schreiben nicht radikale Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, sondern mehrere EU-Parlamentarierinnen und EU-Parlamentarier aus verschiedenen Fraktionen in einem gemeinsamen Kommentar. Anlass dafür ist die “Beyond Growth”-Konferenz, die seit gestern in Brüssel in den Hallen des EU-Parlaments stattfindet. Veranstaltet wird sie von 20 EU-Abgeordneten aus fünf politischen Familien in Kooperation mit 60 Organisationen. Die Konferenz kommt zur rechten Zeit, denn nie war es notwendiger, nach Wegen zu suchen, die gefährliche Abhängigkeit unserer Wirtschaft vom Wachstum zu beenden. Hier sind, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige Gründe, warum dies unabdingbar ist.

1. Wachstum schadet Natur und Klima

Je größer eine Wirtschaft ist, desto mehr Energie und Ressourcen verbraucht sie, was wiederum mehr Umweltzerstörung bedeutet. Eine Studie basierend auf Daten aus 189 Ländern für die Jahre 1961 bis 2010 kam zum Ergebnis, dass ein Wirtschaftswachstum von einem Prozent mit einem Emissionswachstum von 0,5 bis 0,8 Prozent einhergeht.

Das Wachstumsversprechen unserer Gesellschaft ist zerbrochen, wie dessen Auswirkungen zeigen. Foto: www.istockphoto.com/de/portfolio/Hramovnick

2. Unsere Wirtschaft ist bereits jetzt deutlich zu groß

Im Jahr 1972 erschien der Bericht “Grenzen des Wachstums” des Club of Rome, der vor den gefährlichen Folgen endlosen Wachstums warnte. Seitdem sind Klimaverschmutzung und globaler Ressourcenverbrauch stetig angestiegen. In den letzten 50 Jahren hat sich der globale Ressourcenverbrauch vervierfacht und ist damit schneller gestiegen als das Bevölkerungswachstum. Wir verbrauchen heute global 70 Prozent mehr Rohstoffe als die Erde nachhaltig bereitstellen könnte. In Österreich ist die Diskrepanz noch viel größer: Wir verbrauchen pro Kopf viermal so viele Ressourcen und stoßen achtmal so viele Emissionen aus, wie der Planet verkraften könnte, wären alle Menschen Österreicherinnen und Österreicher.

3. Grünes Wachstum ist eine Illusion

Die Strategie der allermeisten Personen aus Politik und Ökonomie gegen diese Probleme ist “grünes Wachstum”. Wirtschaftswachstum soll demnach von Umweltauswirkungen entkoppelt werden. Das heißt, trotz mehr Wachstum soll die Belastung für den Planeten sinken. Dies mag theoretisch möglich sein, in der Praxis hat sich bisher jedoch gezeigt, dass die Versprechen unerfüllbar bleiben. Zahlreiche empirische Untersuchungen weisen das nach.

Wenn doch “Beweise” für Entkopplung und grünes Wachstum präsentiert werden, beziehen sich diese meist nur auf bestimmte Umweltauswirkungen (zum Beispiel CO2) und kurze Zeiträume in einzelnen Ländern. Vielfach zeigt sich auch, dass die Belastung in einem Bereich reduziert wird, während sie in einen anderen verlagert wird. Das passiert etwa, wenn Autos mit fossilem Antrieb durch Elektroautos ersetzt werden, die noch ressourcenintensiver sind.

4. Nachhaltigkeit erfordert einen Wertewandel

Viele Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik verfolgen eine Illusion: Trotz Klimakrise und Artensterben könne alles wie bisher weitergehen, nur mit erneuerbaren Energien. So ließen sich die – gleich wichtigen – wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ziele unserer Gesellschaft gleichzeitig erreichen. In Wahrheit kann aber nur ein lebendiger Planet die Basis unserer Gesellschaft sein – alles andere muss sich an dessen Limits orientieren. Diese Erkenntnis der ökologischen Ökonomik sollten sich sämtliche Managerinnen und Politiker über den Schreibtisch pinnen und danach handeln. 

Der Wachstumszwang steht dem Faktor Nachhaltigkeit nicht nur auf der strukturellen, sondern auch auf der individuellen Ebene im Weg: Forschung zeigt, dass Menschen mit starken materialistischen Werten mehr konsumieren und einen größeren ökologischen Fußabdruck haben, dafür durchschnittlich ein schlechteres Wohlbefinden. Neue gesellschaftliche Erzählungen jenseits des Wachstumszwangs könnten das ändern.

5. Stabiles Wachstum ist ohnehin vorbei

Österreichs Wirtschaft wird heuer nur um 0,5 Prozent wachsen, EU-weit nur um 0,8 Prozent, weit entfernt von ehemaligen und gewünschten Raten. Das hat verschiedene Gründe – so rutschen wir von einer Krise in die nächste. Als die Pandemie gerade erst am Abklingen war, kam mit Russlands Angriff auf die Ukraine nicht nur unermessliches menschliches Leid, sondern auch das nächste Riesenproblem auf die Weltwirtschaft zu. Dazu kommen andere disruptive Ereignisse, wie Lieferkettenprobleme – die durch die Klimakrise oder Konflikte in Zukunft nur noch weiter zunehmen könnten. Die Globalisierung – und damit einer der Wachstumstreiber der letzten Jahrzehnte – hat ihren Höhepunkt überschritten

6. Trotz Wachstum geht die Arm-Reich-Schere weiter auf

Oft wird Wirtschaftswachstum als Allheilmittel für soziale Probleme präsentiert. Solange die Wirtschaft wächst, würde genug von den positiven Effekten des Wachstums nach unten tröpfeln, bis in die untersten Schichten der Bevölkerung. Tatsächlich ist Wirtschaftswachstum allein kein wirksames Gegenmittel gegen Armut. Natürlich müssen vor allem die ärmsten Länder der Welt ihre Wirtschaftsproduktion weiterhin steigern – auf nachhaltige und zukunftsfähige Art und Weise.

Um die globale Armut effektiv zu verringern, braucht es aber viel mehr und vor allem eines: Umverteilung. Denn bereits jetzt produzieren wir weltweit  etwa genug Nahrungsmittel, um alle Menschen auf der Welt zu ernähren. Trotzdem hungern hunderte Millionen. Die Ungleichheit steigt weiter: Zwischen 1980 und 2016 wanderten 27 Prozent des globalen Einkommenszuwachses auf die Konten des reichsten ein Prozent. Derweil wächst das Einkommen der Ärmsten langsamer als das BIP. Bei der unrealistischen Fortsetzung historischer Wachstumsraten würde es 200 Jahre dauern, bis jeder Mensch die kritische Einkommensschwelle von fünf Dollar pro Tag überschritten hat, wie der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für Extreme Armut und Menschenrechte 2020 feststellte.

7. Wachstum sorgt nicht für Zufriedenheit und Wohlergehen

Daten zeigen eine Korrelation zwischen höherem Bruttoinlandsprodukt und größerer Zufriedenheit. Im Vergleich zwischen Ländern zeigt sich, dass reichere tendenziell zufriedener sind als arme. Nimmt man andere Variablen wie staatliche Sozialleistungen, Lebenserwartung und Freiheit in den Blick, zeigt sich, dass diese viel mehr zum allgemeinen Wohlergehen beitragen. Es lohnt sich auch ein Blick auf einzelne Länder über längere Zeit: In vielen Fällen zeigt sich hier, dass trotz steigendem BIP die Zufriedenheit der Bevölkerung stagniert oder sogar sinkt. Beispiele dafür sind die USA oder Indien. Dieses Phänomen ist als “Easterlin Paradox” bekannt.

8. Das Wachstumsversprechen unterdrückt die Verteilungsfrage 

Wenn der Kuchen stetig wächst, müssen wir weniger darüber streiten, wer wie viel davon bekommt. Das ist ein unausgesprochener Leitsatz unserer Gesellschaftsordnung. Jahrzehntelang wurden Verteilungskämpfe mit dem Wachstumsversprechen vermieden, doch diese Strategie stößt nun an ihre Grenzen. Die oben beschriebenen ökologischen Limits, aber auch die sozialen und Gesundheitskrisen sowie Konflikte werden kein ewiges Wachstum wie bisher erlauben. Wir sollten die Verteilungsfrage neu stellen, solange Gesellschaft und Demokratie noch relativ intakt und stabil sind und sie im Einklang mit ökologischen Fragen beantworten. Je länger wir damit warten, desto schlimmer könnten die Konflikte werden.

9. Bruttoinlandsproduktes als schlechter gesellschaftlicher Maßstab

Sogar Simon Kuznets, ein Vordenker des Bruttoinlandsproduktes, war sich der Limitierungen und Probleme solcher Maßstäbe bewusst: “Der Wohlstand einer Nation lässt sich kaum aus einem Maß für das Nationaleinkommen ableiten”, schrieb er. Eins der Probleme des BIP ist seine Blindheit: So tragen neben sinnvollen auch negative und sogar zerstörerische Effekte zu einer Steigerung des BIP bei. Es steigt etwa bei einer Ölpest, die teure und aufwändige Reinigungsaktionen notwendig macht. Andererseits sind positive und wünschenswerte Dinge kein Teil des BIP, etwa unbezahlte Sorgearbeit oder Erziehung.

10. Exponentielles Wachstum ist nicht wünschenswert

Die Pandemie hat uns gelehrt, was exponentielles Wachstum bedeutet. Im Fall des Wirtschaftswachstums wird es aufgrund der Umweltauswirkungen zum Problem. Mit einem – vielfach als wünschenswertes Ziel gesteckten – Wachstum von 3 Prozent pro Jahr verdoppelt sich eine Wirtschaft alle 24 Jahre. Innerhalb von 48 Jahren hat sie sich vervierfacht, in 72 Jahren wäre sie achtmal so groß wie heute. Werden wir am Ende dieses Jahrhunderts wirklich achtmal so viele Produkte und Dienstleistungen brauchen wie heute?

11. Der Wachstumszwang verhindert Problemlösungen

Manche Lösungen für die Klimakrise und andere Probleme würden sich negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirken. Viele umsatzstarke Industrien wie die Fossilenergie, die Autoindustrie oder auch der Bausektor müssten im Sinne der ökologischen Grenzen stark schrumpfen. Suffizienzmaßnahmen wie die Einschränkung von Werbung, das Verbot von geplanter Obsoleszenz aber auch die Umverteilung und Verkürzung der Arbeitszeit stehen im Widerspruch zu einem Weiterwirtschaften wie bisher. Ein Hindernis für die Umsetzung solcher Schritte ist die Wachstumsabhängigkeit: Um gleich viel oder mehr zu produzieren, sollen wir länger arbeiten. Im Sinne des BIP ist es besser ein E-Auto zu kaufen als eine Öffi-Jahreskarte.

12. Wachstum hierzulande nimmt anderen Weltregionen Spielraum 

Das Wirtschaftsmodell in Staaten des Globalen Nordens wie Österreich und damit sein Wachstum basiert auch auf der Ausbeutung von ärmeren Ländern im Süden. Eine Studie aus dem Jahr 2022 kommt zum Ergebnis, dass sich der Abfluss von zu ungleichen Preisen gehandelten Rohstoffen vom Süden in den Norden zwischen 1990 und 2015 auf 242 Billionen Dollar belief. Das entspricht rund einem Viertel der gesamten Wirtschaftsproduktion des Nordens. Dazu kommt, dass das fossil betriebene Wachstum sowie die Ressourcenausbeutung durch Länder in Europa und Nordamerika ärmeren Ländern die ökologische Basis abgräbt. Der Süden kann etwa angesichts der Klimakrise keine von billigen fossilen Brennstoffen gespeiste Wachstumsphasen durchmachen, wie sie der Norden seit der Industrialisierung betrieben hat.

13. Eine Welt ohne Wachstum kann eine bessere sein

Der Abschied vom Wachstum bietet uns die Chance, Fragen nach einem guten Leben für alle neu zu stellen – und ehrlich zu beantworten. Das bedeutet natürlich, dass viele sich von Dingen verabschieden werden müssen, die selbstverständlich, bequem und “normal” geworden sind: regelmäßige Flugreisen, ein eigenes Auto pro Person, Konsum als Zeitvertreib. Ein Weniger an materiellen Produkten kann auch ein Mehr sein: Ein Mehr an Zeit für Freunde und Familie, Freizeitaktivitäten und politischem Engagement. Ein Mehr an Verbundenheit und Austausch mit unserem lokalen Umfeld und unserer natürlichen Umwelt. Sicher ist: Wenn es um die Zukunft des Planeten geht, ist Weniger eindeutig Mehr.

13 Gründe, warum wir uns vom Wirtschaftswachstum verabschieden müssen
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